Mitten im Leben: Das wahre Gesicht

**Mitten im Leben - Episoden aus dem Leben**



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Ich habe eine schlechte Nachricht, sagte Jens zu seiner Mutter, als sie ihm die Wohnungstür öffnete. Die Mutter blickte ihn erschrocken an; noch wusste sie nicht, wie schwer die Nachricht sie treffen würde. 
Komm, wir gehen ins Wohnzimmer, sagte Jens und betrat die Wohnung. Seine Mutter war schon über 70, aber immer noch rüstig und bis auf ein paar Wehwehchen ziemlich gut in Form. Der Vater lebte schon lange nicht mehr, sie blieben zu dritt. Die Mutter versuchte beide Söhne gleich zu behandeln, keinen der beiden zu favorisieren und doch spürte Jens, dass er immer schon ihr Lieblingssohn gewesen ist. So etwas spürt man eben als Kind. Meistens war sein Bruder Max derjenige, der bei allem auf ihn Rücksicht nehmen musste, aber er hatte sich nie anmerken lassen, dass ihn das irgendwie störte, dass er sich deswegen zurückgesetzt fühlte. Und jetzt, wo sie beide schon lange Erwachsene waren, war das kein Thema mehr. 

Jeder lebte sein Leben, so gut es eben ging. Sie waren weder reich, noch arm, das, was sie hatten, reichte fürs Leben, für ihre Ansprüche. Die Mutter hatte ihnen Sparsamkeit beigebracht, so wussten sie mit dem Geld, was sie verdienten, umzugehen, ohne in irgendwelche Schulden hineinzuschlittern. Bloß ja keine Schulden, hatte die Mutter ihnen eingebleut, da kommt ihr in Teufels Küche! Lasst die Finger davon! Kauft nur das, wofür ihr das Geld in der Tasche habt! Ich kann euch nicht helfen, wenn ihr euch verschuldet, ich habe selber nichts! 

Also was gibt's so wichtiges, fragte die Mutter, als sie sich in den großen Ohrensessel gesetzt hatte. Erzähl mal! Ist es wirklich so schlimm?

Nun ja, das kann mal wohl sagen; aber bitte reg dich nicht gleich auf, damit ist niemandem etwas geholfen, sagte Jens. Also, es ist etwas Schreckliches geschehen und wir müssen mit allem rechnen. 

Aber was? Rede endlich, spuck es aus, sonst werde ich noch wahnsinnig! Bist du verschuldet? Bist du in etwas Schlimmes hineingeraten?, fragte die Mutter leicht hysterisch. 

Nein, nein, Mutter, das ist es nicht … wenn bloß das wäre … Nein, es geht um Max … es ist so schrecklich! Max hat gestern Abend eine Million im Casino gewonnen und …
Was? Er hat was? Eine Million, du lieber Gott! Das nennst du schrecklich? Sag mal! Das ist ja fantastisch! Eine Million! Mein Max! Das kann ich gar nicht glauben! Ist das wirklich wahr? Echt jetzt? Jens! Weißt du überhaupt, was das für dich bedeutet? Jetzt kannst du dir endlich eine größere Wohnung kaufen! Jens! Du kannst endlich aus diesem Loch mit 30m², wo du seit deiner Scheidung haust, endlich raus! Max wird dir schon das Geld dafür schenken, ich kennen ihn, er ist ein guter Junge! Er macht es bestimmt!, sagte die Mutter euphorisch und große Freude sprudelte förmlich aus ihr heraus. 

Aber nein, Mutter ... Max … er ist ... Mutter! Ich war mit dem Satz noch nicht fertig, hör mir bitte endlich zu! Setz dich wieder hin! Die schlechte Nachricht kommt erst. Ja, es ist wahr, Max hat gestern sehr viel Geld gewonnen, aber … aber er … er liegt jetzt im Krankenhaus. Schwer verletzt, sein Zustand sei sehr kritisch, haben mir die Ärzte mitgeteilt. 

Was? Aber … Max, wieso denn … Krankenhaus …??, stotterte die Mutter.

Ja, Mutter, Max ist gestern Nacht zusammengeschlagen und  blutüberströmt in einer Nebenstraße, in direkter Nähe des Casinos aufgefunden worden. Es handelt sich um einen brutalen Überfall. Niemand weiß, wie lange er bereits dort lag, halb tot, halb lebendig. Ein Pärchen stolperte fast über ihn; zuerst dachten sie, er wäre betrunken oder ein Obdachloser. Aber dann sahen sie das viele Blut, das er bereits verloren hatte und riefen sofort die Polizei, dann auch den Rettungsdienst. Sie hatten ihn ins Krankenhaus gebracht, seitdem wissen wir nichts von den näheren Umständen. Er wurde sofort ins künstliche Koma versetzt, weil er so schwer verletzt wurde. Die Ärzte können noch nicht sagen, wann wir mit ihm reden könnten. Wir müssen abwarten und hoffen, dass er durchkommt. Wir müssen jetzt stark sein, Mutter und auch mit dem Schlimmsten rechnen. So sieht's aus, aber wir müssen trotzdem hoffen, verstehst du?, sagte Jens und drehte sich vom Fenster weg, als er hörte, dass die Mutter zu weinen begann. 

Er beugte sich zu ihr hinunter, damit er sie im Sessel umarmen konnte. 
Sie hob ihren Kopf, ihre Augen schwammen in Tränen, dann aber fragte sie ihren Sohn, den sie immer schon, seit er auf der Welt war, bevorzugt hatte, den sie mehr liebte, als alles andere, mehr, als ihr Leben selbst und fragte mit weinerlicher Stimme:

Jens, Jens, aber sag mir mal, sag mir endlich … und wo ist das Geld jetzt? Eine Million … Wahnsinn … das ist ja nicht zu glauben, eine Million, hörst du …? Du bist jetzt endlich reich, reich, reich! 

Sprachlos verließ Jens die Wohnung seiner Mutter und schwor sich bei Gott, bis zu seinem Lebensende in seiner Wohnung, in dem Loch mit 30m² zu bleiben, falls sein Bruder diesen brutalen Überfall mit seinem Leben bezahlen musste. 


© Sunelly Sims

(Foto via pixabay.com)